Ich begegnete dem Thema «verlorener Zwilling im Mutterleib» das erste Mal in meiner Ausbildung in systemischer Aufstellungsarbeit / Familienaufstellungen. Das war neu für mich! Mein Interesse wurde sofort geweckt. Ich hatte damals nicht erwartet, dass ich später in meiner Praxis sehr häufig mit dem Zwillingsverlust arbeite.

Buchtipps zum Thema „verlorener Zwilling“

Ich habe viel über die Thematik gelesen und kann das Buch von Barbara Schlochow „Mein verlorener Zwilling“ sehr empfehlen. Sie beschreibt sehr berührend, klar und verständlich, was im Mutterleib passiert und welche tiefen Prägungen dies für das eigene Leben haben kann.

Eine weitere Leseempfehlung zum Thema ist das Buch „Das Drama im Mutterleib – Der verlorene Zwilling “ von Alfred R. und Bettina Austermann.

Ein verlorener Zwilling in systemischen Aufstellungen

Systemische Aufstellungen können zeigen, ob das Thema eines verlorenen Zwillings zum Tragen kommen kann. Durch die Trauerarbeit können oftmals tiefe Emotionen ausgelöst werden. Auf der energetischen Basis ist die starke, innige Verbindung klar spürbar. Zu erkennen, dass genau dieser tiefe Schmerz im Mutterleib die unerklärbaren Emotionen auslöste und damit die Suche endlich ein Ende hat, lässt eine enorme Last abfallen und eine tiefe Ruhe kehrt ein.

Wie wichtig ist die Öffentlichkeitsarbeit über das Schicksal eines verlorenen Zwillings?

Die Tragik wird dann bewusst, wenn klar ist, dass die Verbindung zu einem Zwilling oder Mehrling wohl die tiefste und innigste ist, die man zu einem anderen Menschen haben kann, tiefer als zur eigenen Mutter. Ich empfinde es als sehr wichtig das heutige Wissen über diese Thematik zu verbreiten und zu informieren – so wie ich vor einigen Jahren noch nichts davon gewusst habe, so ergeht es ganz vielen Menschen. Es berührt mich sehr, wenn in meiner Arbeit klar wird wie vielen Menschen damit endlich Erleichterung ins Leben gebracht wird.

Der überlebende Zwilling alleine auf sich gestellt

Der überlebende Zwilling, der als Einzelkind zur Welt kommt, mag sich sein Leben lang einsam und traurig fühlen oder vielleicht sogar an unergründlichen Schuldgefühlen leiden. In der systemischen Arbeit wird ersichtlich, welche Prägungen durch den Verlust abgespeichert wurden. Manchmal nimmt der verlorene Zwilling energetisch den Platz des Klienten ein, was natürlich auslöst, dass stetig der eigene Platz gesucht wird – nur er ist ja besetzt.

Sein Verlust kann mit heilsamer Arbeit vertrauert werden, die schweren Gefühle des Überlebenden lösen sich auf und der Klient wie der verlorene Zwilling bekommen ihren  eigenen Platz. Auf der Herzebene bleibt die Verbindung immer bestehen und wenn diese wichtige Trauerarbeit um den Verlust gemacht wurde, schöpft man daraus ganz viel Kraft und der tiefe Schmerz verschwindet.

Wie ein verlorener Zwilling unser Leben prägen kann

Laut embryologischer Forschungen führen viele Zeugungen am Anfang zu Zwillings- oder Mehrfachbefruchtungen. Die Zahlen schwanken zwischen 20% und 60%. Selbst wenn von diesem Phänomen nur 20 % betroffen sind, war jeder fünfte von uns nicht alleine im Mutterleib, was tiefgreifende Folgen für den Überlebenden haben kann.

Wie ist es möglich, dass ein Verlust in der Schwangerschaft nicht erkannt wird?

Wenn dieser Verlust stattfindet, bedeutet das, dass im Mutterbauch meistens nach kurzer Zeit für einen Teil das Leben schon zu Ende geht. Meistens verschwindet der winzige Körper des verlorenen Zwillings auf immer unsichtbar in den Tiefen der Gebärmutter oder des Mutterkuchens, ohne äusserliche Spuren zu hinterlassen. Er wird vom Gewebe des Mutterkuchens absorbiert. Wenn der abgestorbene Zwilling vom Körper der Mutter zersetzt und in den Kreislauf ihres Körpers wieder aufgenommen wird bleiben keine Spuren zurück.

Es ist aber auch möglich, dass der Embryo über Schmierblutungen während der Schwangerschaft abgeht und nicht erkannt wird, dass dies eine Zwillingsbefruchtung war. Wenn Spuren zurückbleiben, werden sie oft den Müttern meistens verschwiegen, um sie nicht zu beunruhigen. Es gibt Föten, die wie versteinert im Mutterkuchen eingewachsen sind, so dass dann ein Kind lebend zur Welt kommt und kurz danach noch ein verhärteter Klumpen folgt.

Traumatische Verlusterfahrung

Die möglichen Zwillinge erleben nur die ersten Tage oder Wochen nach der Befruchtung gemeinsam. Wenn sich zwei Embryonen eingenistet haben, hört der Eine den Anderen sehr früh. Er hört den Blutkreislauf des Anderen, noch bevor sein Herz anfängt zu schlagen. Die Geräusche seines Geschwisters sind näher als die Geräusche der Mutter.

Da man heute weiss, dass sich die Sinne sehr früh während der Schwangerschaft entwickeln, dass Gedächtnis im Gehirn und in jeder Körperzelle stattfindet, ist erklärbar, dass der überlebende Zwilling vom Anderen wissen muss und der Verlust traumatisch abgespeichert wird. Dies auch nach der Geburt, wenn auch unbewusst im Zellgedächtnis.

Da die ersten Ultraschalluntersuchungen oft später stattfinden, stellt man zu diesem Zeitpunkt der Abgang nicht mehr fest.

Ausser dem überlebenden Baby hat niemand von der  Zwillingsschwangerschaft und dem frühen Tod des einen Zwillingsgeschwisters bemerkt. Das traumatische Ereignis hinterlässt tiefe Spuren, sowohl auf körperlicher als auch auf seelischer Ebene. Daraus erfolgen oft tiefgreifende und prägende Konsequenzen, auf welche ich gerne im nächsten Abschnitt eingehe.

Plötzlich allein gelassen

Stellen wir uns vor, wir spüren, dass sich der eigene Zwilling anders verhält als sonst? Kraftlos wirkt, nicht mehr wächst oder wir keinen Herzschlag mehr spüren. Das löst eine Panik und tiefe Ängste aus – plötzlich allein gelassen, auf sich selber gestellt. Der zurückgelassene Zwilling muss sich entscheiden ob er dennoch Ja zum Leben sagt und mit seiner tiefen Trauer alleine weitergeht. Es kann ein heftiger, innerer Kampf stattfinden oder Schuldgefühle auslösen.

Das Schwierige an der Zwillingsthematik ist, dass sie meist tief im Unbewussten verankert ist. Klare Erinnerungen sind kaum da, zeigen sich höchstens in Träumen. Noch vor einigen Jahren waren kaum Erkenntnisse über diese Thematik in der Öffentlichkeit bekannt und Einschränkungen in unserer Lebensqualität wurden damit kaum in Verbindung gebracht.

Mögliche Folgen des vorgeburtlichen Verlustes

Bei einem überlebenden Zwilling ist die Verbindung zum verlorenen Geschwister auf der energetischen Ebene sehr stark. Sie fühlen sich ohne zweite Hälfte meist unvollständig. Einsamkeit begleitete sie im Alltag und sie fühlen sich oft alleine. Für die Betroffenen ist es, als ob ihnen ein wesentlicher Teil fehlt. „Ich bin ständig auf der Suche“, „ich bin nie gut genug“, „ich muss ständig leisten und es reicht nie“, „ich bin irgendwie nicht komplett“ sind häufige Aussagen.

Auch in Beziehungen können sich traumatische Erfahrungen widerspiegeln.

Echte Beziehungen einzugehen fällt schwer und löst unbekannte Ängste aus. So wird oft Nähe vermieden. Kein Wunder, bedenkt man, dass der Herzensplatz besetzt ist oder die unbewusste Schutzreaktion fährt alle Register auf, lieber keine Beziehung als einen weiteren schweren Verlust ertragen.

Oder die Angst alleine gelassen zu werden, lässt einen sich sehr angepasst verhalten, egal wie glücklich die Partnerschaft verläuft; ganz nach dem Motto: auf keinen Fall alleine sein – das halte ich nicht nochmals aus.

Verhaltensmuster überlebender Zwillinge können sein, dass sie unbewusst von Schuldgefühlen geplagt sind. Der überlebende Zwilling hat bereits eine erste Todeserfahrung und einen schweren Abschied hinter sich, der meist traumatisch ist. Habe ich zu viel Platz eingenommen oder habe ich zu viel Nahrung für mich beansprucht, dass das Geschwisterchen sterben musste, sind tief im Unterbewussten verankerte Schuldgefühle. Auch unerklärliche Trauergefühle, tiefe unbekannte Sehnsucht, ständig getrieben sein, innere Unruhe, Resignation, Depression, Todessehnsucht, unerklärliche Panik, Perfektionismus etc. können sich zeigen.

In der Kindheit – Die Beziehung zum unsichtbaren Geschwister

Oftmals spielen betroffene Kinder mit einem unsichtbaren Geschwister. Verlagen, dass am Esstisch auch ein Platz für ihren „Freund“ eingerichtet wird, oder wollen beim Spazieren, dass die Mutter auch die Hand des Unsichtbaren hält.

Oder sie suchen Ersatz in einem innigen Kontakt zu einem Plüschtier oder einem Haustier, was ihnen diese Lücke füllen soll und trösten soll. Vielleicht will es unbedingt ein Geschwisterchen, und lässt von diesem Wunsch sich nicht abbringen.

Haben Sie ähnliche Erfahrungen?

Vielleicht gibt es jemanden in Ihrem Familien- oder Freundeskreis, auf den die Beschreibung zutrifft? Leiten Sie diesen Artikel gerne weiter.

Selbstverständlich freue ich mich auch über Anregungen, Gedanken und einen interessanten Austausch in den Kommentaren.